Offener Brief an unsere westdeutschen Freunde

Für kritische Solidarität

Wir wenden uns als unabhängige Linke der ehemaligen DDR an Euch, unsere Freunde in den westdeutschen Landesverbänden der PDS/Linke Liste und die unabhängigen Linken, um nochmals auf unsere gemeinsame Verantwortung für den Verlauf der von uns allen gewollten Verständigung der deutschen Linken hinzuweisen.

In den zurückliegenden Wochen haben sich viele Linke der ehemaligen BRD entschlossen, zusammen mit der PDS in die Diskussion um neue Perspektiven linker Politik hineinzugehen. Damit war auch die Befürwortung eines gemeinsamen Antretens zu den Bundestagswahlen verbunden, der sich auch unabhängige Linke aus der ehemaligen DDR anschlossen. Wir alle hatten davon auszugehen, dass der erfolgreiche Verlauf dieser Annäherung eine ebenso große Chance für neue Perspektiven sozialistischer Politik ist, wie das Scheitern dieses Versuchs auf unabsehbare Zeit die Entwicklung solcher Perspektiven verhindern wird. Und wir alle wissen, das Tempo und Tiefe der PDS Erneuerung hier eine entscheidende Rolle spielen. Das neue Wahlgesetz hat den ursprünglich selbständigen Landesverbänden der Linken Liste West die Umwandlung in Landesverbände der PDS aufgenötigt und damit das Schicksal auch der auf offenen PDS-Listen kandidierenden unabhängigen Linken in ganz Deutschland stärker mit dem Zustand dieser Partei verbunden. Es war allen klar, dass für viele unserer politischen Freunde im Westen die Akzeptanz einer solchen Bündniskonzeption davon abhängt, ob es den Trägern dieses Bündnisses in der ehemaligen BRD gelingt, öffentlich und unmissverständlich klarzustellen, wie sie als selbständige politische Kraft die Erneuerung der PDS zu fördern und die konzeptionelle Auseinandersetzung zu führen gedenken.

Schon vor Wochen hatten unabhängige Linke aus der DDR und PDS-Erneuerer Grund genug, nach einer Aussprache über die Konsequenzen dieser Entscheidung für die westdeutschen Landesverbände ihre Enttäuschung über die mehrheitlich passive Haltung der anwesenden Landesverbandsvertreter angesichts der neuen Situation zu äußern. Namentlich die unabhängigen Linken im Osten, aber auch viele unserer Freunde im Westen haben niemals Illusionen über den Zustand der PDS nachgehangen, sondern haben vielmehr die Zusammenarbeit mit den Erneuerern dieser Partei verstärkt, offene Kritik an konservativem Denken und Apparatstrukturen geübt und die politische Differenzierung innerhalb dieser Partei unterstützt. Wir werden nicht vergessen, dass kritische Solidarität der beste Dienst ist, den wir gerade den Erneuerern in der PDS sowohl gegenüber dem zur Staatsräson und zum Grundkonsens wahltaktischen Opportunismus erhobenen plattesten Antikommunismus leisten können als auch gegenüber den überwinternden Fossilien alten Denkens in der PDS. Wenn aber, wie damals geschehen, so schnell zur Tagesordnung des gemeinsam mit der PDS vorzubereitenden Wahlkampfes übergegangen wurde, kann es nicht überraschen, dass nach öffentlich werden des Finanzskandals die Landesverbandsvertreter West trotz eindringlicher Intervention nicht imstande waren, sich auf eine gemeinsame Erklärung zum Politikverständnis in Teilen des Apparates und womöglich auch der Parteiführung der PDS, die SED-Alt-Kader im Apparat unkontrolliert zu beschäftigen für vertretbar hielt, zu verständigen. Es ist eine Tatsache, dass die Erneuerer in der PDS-Basis bisher nicht nur in der Minderheit, sondern auch politisch neutralisiert waren. Es bleibt eine Tatsache, dass ohne kompromisslose Abgrenzung von konservativen Kräften in der PDS, die den konzeptionellen Erneuerungsprozess durch passiven Widerstand behindern oder Parteistrukturen als Machtstrukturen anwenden wollen, diese Erneuerung scheitern wird. Und es bleibt wahr, dass man ein Bündnis der Linken in Deutschland auch im Westen von unbelehrbaren Taktikern der DKP-Schule zu schützen hat, die gerade dann besonders agil in ihrer Obstruktionspolitik werden, wenn sie ihren Avantgarde-Anspruch im Parteiformierungsprozess in Frage gestellt sehen. Und es muss bei unserem Streit um Konzepte linker Politik für eine sozialistische Alternative in Deutschland auch die Auseinandersetzung mit dem Sozialdemokratismus in der PDS geführt werden... Wird dies nicht durchgestanden, so wird die Geschichte des Scheiterns der Erneuerung der PDS möglicherweise beschrieben werden müssen als Schicksal eines zwangsläufig sich nur zum Sozialdemokratismus wendenden Stalinismus. Jetzt hat sich zu erweisen, ob konstruktiver Streit oder manipulierbare Schulterschlussmentalität, organisatorische Vernunft oder dogmatisches Apparatdenken, konsequente Politik für eine sozialistische Alternative oder verwaschener Reformismus, ein neues basisdemokratisches Partei- und Politikverständnis oder ein gefolgschaftshöriges und autoritätsgläubiges Kaderparteidenken sich durchsetzen wird. Das Projekt eines linken Bündnisses in Deutschland ist in Gefahr. Wenn es nicht gelingt, die vielen engagierten Linken in alternativen Projekten, feministischen Initiativen, in der Gewerkschaftsarbeit, den Bürgerinitiativen und sozialen Bewegungen für eine Zusammenarbeit zu gewinnen, werden wir scheitern. Und wer glaubt, dies auf die Zeit nach dem Wahlkampf verschieben zu können, irrt ebenso, wie jene, die meinen, dies könne durch Wahlkampf geschehen.

Thomas Klein
Jutta Braband

Neues Deutschland, Do. 08.11.1990

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